30.4.13

Flatrate Flatscreen Flat Life


Entweder werde ich so richtig alt und folglich allem Modernen gegenüber mieselsüchtig-paranoid eingestellt, oder es stimmt tatsächlich, dass bei meiner wöchentlichen U-Bahn-Fahrt des Mittwochs eine immer größere Zahl der Mitreisenden in ihr Handy glotzt. Ich, frisch vom Land importiert, wo ich gelassen und von Botschaften unbelastet auf Berge und Wälder glotzen darf (so ich nicht auch, wie jetzt in den Monitor …), bin also Woche für Woche verwunderter und glaube zu beobachten, wie der Mensch seine Aufmerksamkeit und Energie rasant ansteigend immer mehr in Bildschirme hinein verfügt.
Wie viel von 100% unseres Lebens erledigen wir mittlerweile in 2D, über Display, Touchscreen, Flatscreen?
Wenn ich im Kurs etwas an die Tafel schreibe (mit Kreide), wird das nicht mehr abgeschrieben, sondern mit dem iPhone fotografiert. Klar, ist ja praktisch. Wenn ich ein Buch kaufe und nicht auf meine Tochter höre (die in einer kleinen Buchhandlung aushilft und den Überlebenskampf dort live mitkriegt), sondern bei Amazon bestelle: Bildschirm, Kreditkarte (und die schlechte Behandlung der Angestellten inklusive). Ich kaufe ein Ticket für den Zug, online oder am Automaten: klickklick, tappstapps. Ein Gedanke plagt mich (wo hat der Schauspieler noch gespielt oder ähnlicher Unsinn), ich schaue "nur schnell" was nach und verbringe – von mir völlig unbemerkt! - Stunden vor dem Schirm. Zeitung lese ich online und – richtig – dieser Text wird auch nicht mit Füllfeder geschrieben. (Wär aber eigentlich schön.) Und wie lange dauert es, bis in einer frohen Runde jemand sein Smartphone zückt und Bilder oder Filme oder sonst was Witziges herzeigt?
 
So weit, so nützlich. Was aber geht verloren? Was passiert mit unseren Geistern und Seelen, wenn sie immer mehr auf, an und in dünne flache Flächen gepresst werden? Ausgewalzt, förmlich, wie Bilbo Baggins im Herrn der Ringe sagt: “I feel thin, sort of stretched, like butter scraped over too much bread … “ *

2D geht oft auf Kosten von 3D – das ist eine nüchterne Zeitfrage (und hat vielleicht auch ein wenig mit Sucht zu tun). Wer viel Zeit mit Organisation, Verwaltung, Kommunikation, Planung vor dem Rechner und an Handys verbringen muss und sich in Pausen mit witzigen Filmchen, Social Media und sonstiger Inspiration belohnt, hat weniger Raum, um echte Dinge zu tun. Muss man ja auch nicht, mit einem weiteren flachen Ding (Geld, flache Scheine, flache Münzen, Kreditkarten, Kontostände) lassen sich alle Bedürfnisse stillen, Kleidung, Essen, Medikamente, Fortbewegung, Erholung, Fun (argh), Lifestyle, Anerkennung. 

2D, das ist auch das schöne Schnitzel unter Folie in der Styroportasse, das Kleid, das billig im Schaufenster hängt, ist der Online-Versand mit null Risiko beim Einkauf und Tonnen von CO², wenn Tonnen von Ware unnötig hin und her geschickt werden. 2D ist die Oberfläche unserer Konsumwelt, flach, hübsch, kurzlebig, meist unfair-Trade, giftig, umweltzerstörend und ausbeuterisch. 

Hinter der Oberfläche ist die Realität, in 3D: Es ist nicht egal, wie meine Kleidung genäht wird (von minderjährigen Sklaven in Gefangenschaft), was alles in meinem Essen drin ist (Zucker, Herbi- und Pestizide, Chemie aller Art), wie ich versuche gesund zu werden oder zu bleiben (als Wirts- und Versuchstier der Pharma-Industrie), wie Pflanzen und Tiere behandelt werden (als seelenloses und gnadenlos an die Industrialisierung angepasstes Nutz-Material), mit welcher Energie die Server betrieben werden, die gravierend anwachsende Datenmengen zu verarbeiten haben (böse Kohle, noch bösere Atomenergie mit nicht absehbaren Müll-Problemen). **

Ein "Flat Life" lässt Handgriffe und Geschicklichkeit aussterben, reiches Wissen und Erfahrungen, die sich über Jahrtausende angesammelt haben. In den paar Jahrzehnten seit der Verwandlung von großen Teilen der Bevölkerung in Konsumenten und Innen, innerhalb von – na wahrscheinlich – zwei Generationen, haben wir so viel vergessen und verlernt, wie wahrscheinlich nie zuvor. Natürlich weil wir dafür so viel gekriegt und gelernt haben, wie nie zuvor, aber zu welchem Preis! Banale Frage nämlich: Sind wir glücklicher, gesünder? Das Profil schreibt, der aktuelle Mensch – nach Hippie, Yuppie, Bobo - sei der leidende Mensch: Burnout, Depressionen, Nahrungsunverträglichkeiten, Allergien und so fort. (Welches Kürzel wird es einst dafür geben? Burnie?)

Natürlich dürfen wir nicht in Retro-Romantizismen verfallen, natürlich ist es gut, dass wir uns nicht mehr auf dem Feld abrackern müssen, in schimmeligen Katen wohnen, steinhartes Brot essen müssen. Alles in 3D hatte definitiv seine Mühen und Härten, alles in 2D, die Hände nur mehr an der Tastatur und touchend, scheint allerdings auch keine durch und durch gesunde und zukunftsfähige Alternative zu sein (oder wünschen wir uns, wenn wir richtig alt sind, die jetzige Jugendgeneration aus den U-Bahnen als Pflegepersonal? Oder an verantwortlichen Stellen??) (einer meiner zynischen Mittwochs-Gedanken …) (und vielleicht haben sich das unsere Großeltern angesichts unserer Blödheiten auch gedacht)

Wie immer ist es der gesunde Mix, der zählt, und vielleicht kann 2D plus 3D ja 5D ergeben – eine fünfte Dimension der Synthese und Ganzheitlichkeit, eine vernetzt-verwurzelte Integration? Um nach 3D zurück zu finden, müssen wir oft über die Fantasie-Ideen-Hürde springen, die sich in dem innigen Seufzer: "Das würd ich alles sooo gerne machen, aber wann?" ausdrückt. An dieser 2D-Hürde stapeln sich unzählige hübsch bebilderte Wie-es-geht-Bücher, gibt es zig Lesezeichen bei tollen Blogs, trinken die Augen ganze Giga-Bytes an Inspiration ins Hirn, allein, es wird nur schwer wirklich!

Was tun? Entdecke und etabliere eine Notwendigkeit für eine Sache, die du tun willst, die die 3D-Sehnsucht stillen kann. Wir sind als Burnies durch den medialen Beschuss auch Meister-Verzettler, und so, wie alles an unserem Geist zerrt und will und will und will, schaffen wir nur unter Mühen den Energielevel, den es braucht um tatsächlich etwas anzupacken. Eine Sache, und die passiert diesen Donnerstagabend. Nur so geht das, Schritt für Schritt. Ein fixer Tag PC- und Handy-frei ist im Übrigen auch ein gutes Ding.

In jedem Fall: Für die, die statt nach Flatrate nach 3D hungern, nach Düften, Vielfalt, Techniken, Haptik, Prozessen und Kreisläufen, nach Geschmack und Gefühl, Stolz und Glück über echte Werke, gibt es viel zu entdecken und zu tun!


* Herr der Ringe, „Die Gefährten“, J.R.R. Tolkien, der 111jährige Bilbo hat dank des magischen Rings sein Leben unnatürlich verlängert.
** natürlich traue ich mich das nur zu schreiben, weil wir alle unsere Websites - und die unserer Grafik-Kunden - auf einem Ökostrom-zertifizierten Server hosten.

3 Kommentare:

  1. Ein ewiger hin und her. Bin aber doch froh, dass Du diesen Text nicht mit dem Füller geschrieben hast - dann hätte ich es nicht lesen können...
    liebe virtuelle Grüße
    Smadar

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  2. Ein ewiger hin und her. Bin aber froh, dass Du diesen Text nicht mit dem Füller geschrieben hast - dann hätte ich ihn hier in HH nicht lesen können :-)
    liebe virtuelle Grüße
    Smadar

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    1. Naja, das ist vollkommen richtig! Ich bin ja auch froh, sonst läge der Text in einem Schreibheft und nur die Fliegen und Spinnen könnten sich dran erfreuen (wobei er ihnen sehr surreal vorkäme)
      Auch liebe Grüße und danke für deine vielen Kommentare überall!

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